Klangkunst - Heinz Weber

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Vergessen Erinnern

 

Texte von Roland Albrecht

 

Auguste A., 84 Jahre, stellte, vierjährig, etwas Harmloses an, das von ihren Eltern aufgebauscht wurde. Bei der polizeilichen Vernehmung log sie aus Angst. Sie vergaß diese Lüge, log aber weiter, lügt bis ins hohe Alter. Bei jeder Lüge erinnert sie sich, ohne es zu wissen, dass die Lüge einstmals funktionierte und sie vor dem vermeintlichen Gefängnis verschonte.

 

Beate B., 92-jährig, litt ihr Leben lang unter einer sozialen Phobie und überließ ihrem Mann jeglichen Kontakt mit anderen. Als ihr Mann starb, erinnerte sie sich im Pflegeheim plötzlich nicht mehr an ihre soziale Angst, wurde gesellig und war der Mittelpunkt in fröhlichen Runden.

 

Christoph C., 75 Jahre, zeigt allen immer wieder ein Foto auf dem nur Bäume und Büsche zu sehen sind und erklärt, dass er dort geboren sei. Auf die Frage, ob er in einem Wald, zwischen Büschen und Bäumen geboren sei, entgegnet er entrüstet: „Aber siehst du denn nicht das Haus hinter den Bäumen, in dem Haus bin ich geboren?“.

 

Doris D., 37 Jahre. Ihre früheste Erinnerung ist der Tag, als sie achtjährig in ein Kinderheim kam. Als man ihr erzählt, dass sie früher missbraucht, geschlagen, misshandelt wurde, bestreitet sie es vehement, denn wenn es so gewesen wäre, müsste sie sich daran erinnern können.

 

Erna E., 44 Jahre. Der Hautarzt diagnostiziert bei ihr einen Hautkrebs. Die Frage, ob sie viel an der Sonne gewesen sei, verneint sie. Ihr Mann sagte, dass sie seitdem er sie kenne, seit 23 Jahren, keinen Sonnenstrahl auslässt. Sie erinnere sich aber seit der Diagnose nicht mehr daran. Worauf der Arzt sagt, dass der Mensch viel vergisst, die Haut aber nichts.

 

Friedrich F. 87 Jahre lebt im Hause „Lebensabend“. Bei ihm wurde eine beginnende bis fortschreitende Demenz diagnostiziert. F. erinnert sich mittags nicht mehr an das, was er zum Frühstück aß, heute nicht mehr an gestern. Er entsinnt sich aber seiner Eltern, die vor 80 Jahren bei einem Spaziergang von Waldfeen erzählten. Er erinnert sich an Geschichten, an die er sich seit über 80 Jahren nicht mehr erinnerte. Es hat den Anschein, dass sich sein Erinnerungsrahmen verändert hat, die Erinnungsbedeutung. Er erinnert sich an mehr als früher.

 

Georgeta G., 34 Jahre, aus Rumänien, wird ein neuer Pflegefall zugewiesen. Bei ihrem ersten Besuch sieht sie, dass der zu pflegende Mann Bilder der Führungsriege des deutschen Faschismus an den Wänden hängen hat. Das erinnert sie, wie ihre Mutter erzählte, dass ihre ganze Verwandtschaft von den Deutschen grausam ermordet wurde, dass sie, ihre Mutter, nur durch einen Zufall überlebte. Nun fragt sich Georgeta G. wie sie den Mann liebevoll pflegen kann.

 

Hubert H., 26 Jahre, möchte mit seiner Frau Kinder bekommen. Er sei noch nie in eine Frau eingedrungen, es ginge nicht, berichtet er. Nach vielen therapeutischen Sitzungen sprach er mit seiner alten Großmutter, die ihm erzählte, dass seine Mutter, die das nicht wisse, das Kind einer Vergewaltigung sei. Der Therapeut deutete das sexuelle Versagen als die weitergegebene Erinnerung des Schmerzes der Großmutter. Er, Hubert H., möchte nicht imstande sein, ein Solches zu wiederholen. Nach vielen Sitzungen und nach dem Ende der Therapie bekam seine Frau das erste von drei Kindern.

 

Ingo I., 54 Jahre, irrt orientierungslos in einem Stadtpark herum. Die herbeigerufene Polizei bringt ihn zu seiner Frau nach Hause. Sie erzählt den Polizisten, dass ihr Mann seit Wochen nur noch „im Hier und Jetzt“ leben wolle, seitdem vergisst er immer mehr und werde zunehmend hilfloser.

 

Jakob J., 34 Jahre, ist überzeugt, dass es ein Erinnern nach vorne gibt, dass es möglich sei, sich in die Zukunft zu erinnern. Er vergaß, dass die Zukunft mit dem Vergessen das Nichtwissen gemeinsam hat. Jakob J. fällt bei all seinen Versuchen der Zukunftserinnerung immer wieder auf die Nase.

 

Karin K., 45 Jahre, versucht all ihr Missgeschick zu vergessen. Sie übt sich täglich, indem sie sich das Nachdenken verbietet. Je mehr sie vergisst, desto mehr erinnert sie sich an immer mehr Details dessen, was sie vergessen wollte.

 

Ludwig L., 32 Jahre, verlor bei einem tragischen Motorrad- unfall seinen rechten Unterschenkel. Fast täglich wird er vom Phantomgeschehen an seinem fehlenden Bein heimgesucht. Sei es, dass das ehemalige Hühnerauge drückt, dass er Fußschweiß riecht, dass die Wade juckt, dass er die Fußnägel schneiden möchte. Alle Versuche, sein nicht mehr vorhandenes Bein zu vergessen, sind vergeblich.

 

Meinhold M. 52 Jahre, führender Vererbungswissenschaftler (Genetiker), ist der festen Überzeugung, dass alles Leben Erinnerung ist. Sobald sich Zellen entscheiden sich zu teilen, erinnern sie sich an den in ihnen liegenden Plan und beginnen ihre seit Jahrtausenden bewährte Aufgabe auszuführen. M. nennt jegliches Leben ein „deterministisches Unternehmen“; ein Abweichen von der Erinnerung, das nicht Wiederholen des Erinnerungsplans, eine Erinnerungslücke sei der Grund für Krankheiten wie z.B. Krebs.

 

Namika N. 28 Jahre musste aus ihrer Heimat fliehen. Sie war 8 Monate unterwegs. An das Meiste, was sie erleben musste, kann sie sich kaum erinnern, es ist zu schlimm, zu abwegig, als dass es eine Erinnerung wiedergeben könnte. Das Erlebte ist aber viel zu groß, viel zu mächtig, um es jemals vergessen zu können.

 

Otilde O., 85 Jahre erinnert sich noch gut an die vielen Feldhasen, die es gab. Ihr Sohn R. erinnert sich an wenig Feldhasen, die er einmal sah, ihr Enkel kennt Feldhasen nur aus Erzählungen, bei ihrem Urenkel werden sie in Vergessenheit geraten sein.

 

Phillip P., 28 Jahre, möchte sich an vieles nicht mehr erinnern, um endlich vergessen zu können. Als er sich nicht mehr erinnerte, vergessen zu wollen, vergaß er, dass er sich nicht mehr erinnern wollte.

 

Qence Q., 45 Jahre, ist vergessensbetrunken. Er will sich nur das Notwendigste merken. Da seine Erinnerungen seiner Vergessensbesessenheit im Wege steht, versucht er auch dem Erinnern zu entgehen. Das Problem ist, dass er sich ständig daran erinnern muss, sich nicht mehr zu erinnern, um zu vergessen.

 

Robert R., 85 Jahre aus Interlaken in der Schweiz erleidet einen Schlaganfall und spricht plötzlich nur noch Hochdeutsch, das er nie gesprochen hat. Seine Familie rätselt. Hat Robert R. das Schweizerdeutsch vergessen oder erinnert er sich an das Deutsch einer Geliebten, von der die Angehörigen nichts wissen?

 

Sabine S., 28 Jahre, geht begeistert in den Bürgerkrieg. Sie macht die anderen verantwortlich, dass die Schlacht vor 400 Jahren verloren ging. Kein Mensch kann sich mehr daran erinnern, aber niemand hat die Schmach von damals vergessen.

 

Theresa T. 74 Jahre, Fotografin, preisgekrönte Bildreporterin, durchstöbert regelmäßig ihr Bildarchiv. Sie ist fest überzeugt, dass durch die Verbildlichung von Ereignissen die Erinnerung der Menschheit authentischer, präziser sei. Heute erkennt sie ihre alten Bilder zwar wieder, kann sich an Details der Aufnahme erinnern, ihr fällt es aber zunehmend schwerer den Kontext der Bilder zu entziffern, sie ordnet die Bilder falschen Begebenheiten zu. Die Bildlegende, das Geschriebene, hilft ihr regelmäßig bei der Zuordnung der Fotografien.

 

Ute U. 92 Jahre liest täglich in ihrem Tagebuch, das sie seit ihrem 14. Lebensjahr bis zu ihrem 82. regelmäßig führte. 68 Jahre. Sie wundert sich, an was sich das Tagebuch alles erinnert; an so viele Sachen, an die sie eine ganz andere Erinnerung hat als das Tagebuch ihr berichtet. Sie fragt sich immer wieder, wer von ihnen beiden, das Tagebuch oder sie, dramatisiert, beschönigt oder gar lügt; denn beide können ja nicht ein so verschiedenes Leben geführt haben.

 

Veronika V., 43 Jahre, gründet einen Verein der von der Apo- kalypse sehr angetan ist. Ihr gefällt an der apokalyptischen Idee, dass es danach kein Erinnern gibt, dass sich, in diesem absoluten Ende, alles in einem großen Vergessen auflöst.

 

Walter W. 59 Jahre, Physikochemiker, konnte nach 15 Jahren seine weitreichende Theorie an einem Experiment praktisch beweisen. Als er die einzelnen Schritte aufschreiben wollte, um das Experiment nachvollziehbar zu machen, fiel ihm ein Zwischenschritt nicht mehr ein. Den Ruhm kassierte ein konkurrierender Kollege 5 Jahre später.

 

Xafwe X. 62 Jahre, wurde als Diktator zum vierten Mal bestätigt. Nun versucht er, die Erinnerungen an das vor ihm Gewesene zu ändern. Er lässt alle Erinnerungen in seinem Sinne umformulieren und würzt sie mit neuen Erzählungen, die das Jetzige durch das scheinbar Gewesene belegen. Die Wissenschaft wird nur noch in diesem Sinne gefördert. In absehbarer Zeit etabliert sich eine neue Erinnerungskultur, die das System legitimiert. Wenn sich die Mehrheit neu erinnert, werden die alten Erinnerungen marginal und abweichend sein. Sie werden dann verboten.

 

Yvon Y., 38 Jahre, wird plötzlich mit nicht vorteilhaften Bildern, die er als 20-Jähriger von sich machte, konfrontiert. Er hatte sie vergessen, sie schon lange gelöscht. Nun tauchten sie wieder auf. Im Netz lässt sich nichts vergessen.

 

Zacharias Z., 62 Jahre, forscht sein Leben lang über alte ausgestorbene Kulturen. Er konnte viel dem Vergessen entreissen, Verlorenes wiederfinden. Da es aber keine Erinnerung an das Wiederentdeckte gibt, kann niemand verstehen, wozu es früher diente.